Februar - 20.02.2023 - 
Zusätzliche Geschichte zu meinem heutigen Instagram Post

»Darf ich mit euch fahren, Mama?« Eine Frage, die damals mein ganzes Leben verändert hatte.

Unsere Geschichte beginnt vor vielen Jahren. Ich war acht oder neun Jahre alt, als in der Nachbarstadt das alljährliche Weinlesefest stattfand. Eine wundervolle Veranstaltung. Überall in der Stadt waren Stände mit Wein, Trauben und diversen Produkten, die die Menschen aus allen Ecken mitgebracht und hier verkauft haben. Mittags zog irgendein König mit seiner Gattin und den Untertanen durch die Straßen. Alle in mittelalterlichen Kostümen. Für uns Kinder eine einzigartige Erfahrung.

Am Abend gab es immer ein Feuerwerk, um das Fest mit einem großen Krach enden zu lassen. Die bunten Farben machten uns Kinder immer glücklich und die ganze Veranstaltung hatte einen besonderen Platz in unseren Herzen. Natürlich waren wir noch viel zu jung, um so lange aufzubleiben. So auch an diesem Samstag ...

»Wir nehmen keine Kinder mit, Jara. Nur die erwachsenen«, sagte meine Mutter und verletzte damit meine kleine Kinderseele. Habe ich nicht den ganzen Tag alles dafür getan, um mitkommen zu dürfen? Ich ließ den Tag Revue passieren und konnte nichts finden, absolut gar nichts, was mir das Anrecht darauf verwehren würde. Doch wenn meine Mutter etwas entschieden hatte, mussten wir uns alle daran halten.
 Nach dem Abendessen an dem es glaub ich, Gulasch gab, saßen wir beisammen im Wohnzimmer. Meine Großmutter kuschelte mit meinem Bruder und mein Onkel schlief seinen Rausch aus, da er tagsüber viel zu viel Wein probiert hatte. Im Fernseher lief irgendein Film, der mich kaum interessierte. Alles woran ich denken konnte, war das Feuerwerk, dass ich dieses Jahr nicht sehen würde.

»Zeit fürs Bett«, befehligte meine Mutter und schickte mich und meinen Bruder ins Badezimmer.

Widerwillig putzen wir uns die Zähne. Dann wünschten wir allen eine gute Nacht. Mein Bruder ging in sein Zimmer und ich in das Schlafzimmer meiner Eltern, denn in meinem Zimmer schliefen unsere Gäste. Ich kuschelte mich an meinen Frosch und versuchte einzuschlafen. Doch bereits da beschlich mir ein mulmiges Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte. Ich wälzte mich im Bett hin und her und konnte überhaupt nicht zur Ruhe kommen. Die Uhr neben dem Bett zeigte mir, dass es halb zehn war und somit die höchste Zeit für die Erwachsenen loszufahren, wenn sie rechtzeitig hinter der Stadt sein wollten, um den besten Ausblick auf das Feuerwerk zu haben.
 Ich hörte, wie sie mit den Jacken raschelten, sich die Schuhe anzogen. 
 »Jan bleibt hier, es geht ihm nicht gut. War wohl zu viel Wein heute«, flüsterte mein Vater und ich hörte, wie er den Flur verließ und das Auto startete.

Nachdem jeder das Haus verlassen hatte, wurde es still. Trotzdem keimte in mir ein kleiner Hoffnungsschimmer. Nun war ja ein Platz im Auto frei. Es wäre doch denkbar, dass mein Vater oder meine Mutter wieder reingehen und mich holen würden. Ich horchte auf jedes Geräusch. Im Wohnzimmer spielte leise der Fernseher, vor dem meine Großmutter saß, die von Anfang nicht mitkommen wollte. Jemand musste schließlich auf uns aufpassen.
 Dann endlich ging die Haustür auf. Jemand, nach den Schritten zu Urteilen war es meine Mutter, schlich hinein. Sie ging jedoch nicht zu mir ins Schlafzimmer, sondern in das Zimmer meines Bruders. Ich hörte, wie er sich anzog und mit ihr rauslief.

Meine Seele brach auseinander. Ich verstand nicht, wieso er mitkommen durfte und ich nicht. Ich war doch die älteste von uns beiden, wenn jemand mitkommen dürfte, dann wäre ich es doch, oder? Ich ließ den Tränen freien lauf und weinte so laut, dass meine Oma zu mir kam, um mich zu trösten.

»Das, was deine Mutter gerade getan hat, war alles andere als fair. Wenn sie von Anfang an behauptet, es kommen keine Kinder mit, sollte sie sich daran halten«, flüsterte sie mir ins Ohr, solange bis ich so erschöpft war, dass ich einschlief. Mein Schlaf war unruhig und ich wurde immer wieder wach.

***

»Warum habt ihr ihn mitgenommen?«, stellte ich am nächsten Morgen meinen Vater zu rede. Verwirrt sah er mich an.
 »Ich hab das Auto gestartet und dann saß er auf einmal mit im Auto«, erwiderte er und ich wusste, dass er nicht gelogen hat. Wir hatten nie die beste Beziehung gehabt, aber anlügen, würde er mich nie. Davon war ich überzeugt.
 Zum Frühstück schmierte ich mir ein paar Brote. Setzte mich zu meiner Oma und wartete, bis meine Mutter rein kam. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Garten der ein Zuhause für Kaninchen, Hühner, Enten und diverse weitere Nutztiere war. Die mussten Tag für Tag gefüttert werden und da meine Mutter immer früher als wir aufstand, war sie die Erste, die sich um die Tiere kümmerte.

Die Tür ging auf und sie stand endlich im Flur. Schwer atmete ich ein und aus. Auch wenn sich in mir alles dagegen sträubte, musste ich es einfach erfahren. Wieso er und nicht ich? Meine Mutter zog ihre Jacke aus und hängte sie an der Garderobe auf, dann lief sie ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich im Wohnzimmer war. Sie nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich auf das andere Ende des Sofas.

»Wieso durfte mein Bruder mitkommen?«, fragte ich, nachdem ich meinen ganzen Mut gesammelt hatte. »Wieso hast du ihn heute Nacht geholt und nicht mich?«
 Verständnislosigkeit spiegelte sich in den Augen meiner Mutter. Sie trank einen Schluck und stellte ihr Glas auf dem Tisch ab. »Ich habe ihn nicht geholt. Er saß auf einmal bei uns im Auto.«

Meine Seele zerriss erneut. Die Frau, die mir tagtäglich eingeredet hatte, dass man nicht lügen soll, dass nur die Ehrlichkeit währt, log mir ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken. Erneut liefen mir Tränen über die Wangen und ich schloss mich in meinem Zimmer ein. Außer meiner Oma kam niemand zu mir, um mich zu trösten oder nachzufragen, was los sei.
Und das war der Beginn meines Untergangs.

Dezember - 04.12.2022

Nachdenklich schweben meine Finger über der Tastatur. Mein Kopf versucht die Gedanken zu sortieren, doch es will nicht so ganz gelingen. Gerade eben habe ich mich geduscht und mein Rucksack gepackt. Während ich überlege, ob ich wirklich alles mithabe, was ich mitnehmen muss, bzw. mitnehmen möchte. Mein MacBook landet auch gleich darin. 

Ich bin relativ ruhig. Das denke ich zumindest, oder ich möchte es mir einreden. Warum sollte ich Panik schieben. Die OP nach der ich mich so lange sehne, steht unmittelbar bevor. Noch zwei Nächte trennen mich von Schmerzen und Flüssignahrung. Eine gute Freundin hat mich jedoch zum Grübeln gebracht. 

Warum tue ich es? Eigentlich bin ich der Meinung das jeder auf seine eigene Weise schön ist. Jeder ausser mir. Nach jahrelangen Mobbing kann mich einfach nicht so sehen, wie die anderen mich sehen. Wenn ich mir meine Fotos anschaue ist alles, was ich wahrnehme mein Überbiss. Es ist nicht schön. Ich finde mich nicht schön. Egal, was all die wundervollen Menschen sagen, die sich in mein Leben geschlichen haben.

Wird es mir das bringen, was ich mir erhoffe? Ich weiß es nicht. Bis gestern, habe ich mich nicht mit dieser Frage auseinander gesetzt. Es war für mich klar - ICH MACHE ES FÜR MICH - für mein Seelenheil. Was wenn dieser nicht eintrifft? Was, wenn meine Erwartung an die OP so hoch sind, es aber trotzdem nicht so sein wird, wie ich es mir vorstelle? Jetzt gerade denke ich, dass alles besser wird als wie es im Moment aussieht. Ich bin von Natur aus ein Pessimistischer Mensch - solange ich wach werde und etwas fühle, ist es für mich schon die halbe Miete.

Wird mir das Endergebnis gefallen? Hoffentlich, man lässt sich ja nicht um sonst die Kiefer brechen, oder? Ich glaube ich werde erst kurz vor der OP realisieren, dass es jetzt kein zurück mehr gibt und dass es tatsächlich bald losgeht. Es könnte so viel schief gehen. Ich könnte mein Geschmack verlieren, das Gefühl in der Lippe verlieren oder verbluten - langsam und jämmerlich xD usw. usw. Trotzdem nehme ich alles in den Kauf für ein schönes Lächeln.

Für ein schönes Lächeln.

Für mich.

Damit ich mich selbst hübsch finde.

Damit ich mich selbst liebe.

Damit ich mich wohlfühlen kann.

Die inneren Narben, die man in meiner Seele hinterlassen hat, werden nie vollständig heilen. Aber zumindest, werde ich daran nicht mehr im Spiegel erinnert.

Wünscht mir Glück und denkt an mich.

Petra Grell

Buchautorin

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